Berufskolleg Bergkloster Bestwig

Persönlich. Christlich. Gut.

Gedenkstättenfahrt des Berufskolleg Bergkloster Bestwig nach Auschwitz

Im Stammlager Auschwitz: die Schülergruppe aus Bestwig mit dem Präsidium des Landtags von NRW (1. Reihe, v. l. n. r.: Vizepräsidentin Angela Freimuth (FDP), Vizepräsidentin Carina Gödecke (SPD), Dorothee Zwiffelhoffer (Direktorin beim Landtag), Landtagspräsident André Kuper (CDU), Vizepräsi-dent Oliver Keymis (Bündnis 90 / Die Grünen)

„Hier ist kein Ort um zu leben. Es ist die Residenz des Todes …“ So beschreibt der Auschwitz-Überlebende Zalman Gradowski Auschwitz. 29 Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Bildungsgängen des Berufskollegs Bergkloster Bestwig hatten sich zusammen mit uns Lehrern in der Woche vor den Herbstferien auf den Weg gemacht, um diesen Ort des Schreckens zu besuchen. Trotz vor-bereitender Gespräche konnten sie nur ahnen, was sie dort erwartete.
Auschwitz-Birkenau war das berüchtigtste der von den Nationalsozialisten eingerichteten Konzentrationslager. Die Größe, die Unzahl seiner Opfer und die Brutalität der dort begangenen Verbrechen über-steigen jede Vorstellung. Wie konnte so etwas geschehen? Wie konnten Menschen zu so etwas fähig sein? Diese Fragen stellen sich alle Besucher, auch unsere Schülerinnen und Schüler.

Nach Auschwitz, der vormals polnischen Kleinstadt Oswiecim, deportierten die Nazis 1,1 Mio. Juden aus ganz Europa, dazu rund 150 000 Polen, zumeist politische Gefangene, ca. 23 000 Roma, 15 000 sowjetische Kriegsgefangene und 25 000 weitere Häftlinge aus allen Ländern Europas. Nur wenige überlebten. Auschwitz wurde damit das größte Zentrum der Massenvernichtung des europäischen Judentums. Der über dem Eingang zum Lager stehende Spruch „Arbeit macht frei“ verkehrt in zynischer Weise das eigentliche Ziel des Lagers: Die einzige Freiheit des Häftlings ist die zu sterben.
Der Besuch des umfangreichen Lagerkomplexes durch Jugendliche im Stammlager Auschwitz I und im Vernichtungslager Auschwitz II – Birkenau erfordert eine sorgsame Heranführung der jungen Menschen an dieses Thema. Wie bei den Besuchen zuvor erfährt unsere Gruppe auch diesmal eine gute Begleitung durch die irische Ordensfrau Sr. Mary O’Sullivan. Sie weist eindringlich darauf hin, dass es nicht gut ist, seine Besuche im Lager durch eigene Vorstellungen bestimmen zu lassen, sondern wahr-zunehmen, zu schweigen und zu hören. Dieses Hören geschieht nach ihrer Aussage in vier Schritten: Hören auf die Stimme der Opfer, Hören auf die Stimme des eigenen Herzens, Hören auf die Stimme der Anderen und Hören auf die Stimme Gottes.
In abendlichen Gesprächs- und Gebetszeiten geht es um dieses vertiefte Hören. Vielen Schülerinnen und Schüler fehlen die Worte, das Gesehene zu kommentieren. Andere versuchen, das Abgründige in Worte zu fassen. „Ich stelle mir vor, ich wäre mit meinen beiden jüngeren Geschwistern hier …“ Und dann sieht man ihr an, wie der innere Film abläuft: Selektion an der Rampe, Trennung für immer, der Weg in die Gaskammer, der Tod schon eine Viertelstunde nach der Ankunft in Auschwitz. – Damals hat man den Menschen weismachen wollen, sie bekämen nach der brutalen Deportation aus ihrer Heimat in Auschwitz eine warme Suppe, einen Kaffee, Arbeit und einen Ort zum Leben versprach. Nichts davon wurde eingelöst.
Der Besuch in Auschwitz fordert uns eine Menge ab. Und er verändert denjenigen, der offen für das Gesehene ist. Auschwitz zeigt, wohin Rassismus und Intoleranz führen. Von sich aus fassen die Schüle-rinnen und Schüler die Verbindungen zwischen den damaligen Ereignissen und den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen immer wieder ins Wort. Warum sind für viele Menschen in Europa Flüchtlinge unerwünscht? Warum verharmlosen rechtsnationale Populisten die Brutalität der Nazizeit als „Fliegenschiss der Weltgeschichte?“ Wie aktuell solche Auseinandersetzungen sind, erlebt die Gruppe in Birkenau. Wir besuchen am jüdischen Festtag „Jom kippur“ das Vernichtungslager. Und abends hören wir im Radio, dass am gleichen Tag in Halle an der Saale ein verrückter Neonazi bei einem brutalen Überfall auf die dortige Synagoge zwei Menschen getötet hat. Diese Nachricht wühlt die Gruppe sehr auf.

An der Todesmauer in Block 11 im Stammlager Auschwitz: Landtagspräsident Kuper spricht anlässlich der Kranzniederlegung zu den Schülerinnen und Schülern aus Bestwig

Wahrnehmen, was damals geschah … In zwei langen Führungen besuchen wir die beiden Lagerkomplexe Auschwitz I und II. Unser Guide zeigt sich wieder einmal als sehr kompetenter und feinfühliger, aber in der Sache auch deutlicher Begleiter. Er fordert uns auf, in unserem Sprachgebrauch genau zu sein: „Auschwitz war kein polnisches Konzentrationslager. Polen gab es zu der Zeit gar nicht.“ Um diese Frage ist in Deutschland eine Woche vor unserer Reise ein Rechtsstreit zwischen dem ZDF und einem Auschwitz-Überlebenden in dessen Sinne entschieden worden. Die Nazis hatten Polen besetzt und als Staat aufgelöst. Ihr Plan war es, nicht nur polnische Widerstandskämpfer und Intellektuelle zu ermorden, sondern alle Polen, weil sie in den Augen der Nazis als Slawen nicht zur arischen Rasse gehörten. Einige Schülerinnen und Schüler merken an solchen Fragen, wie schwierig es ist, sich als dem Volk der Täter zugehöriger Deutscher angemessen zu äußern. Ja, es ist angemessen, zu schweigen und zu hören auf die Stimme der Opfer, des eigenen Herzens, der anderen … und Gottes (?) – Wo warst du, Gott, in Auschwitz?

Die Schülergruppe aus Bestwig mit ihren Lehrpersonen Frau Hardebusch und Herr Dr. Recker vor dem Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim

Die Führungen durch das Lager sind der Höhe- oder besser Tiefpunkt der Reise. Aber dann passiert etwas Überraschendes. Wir besuchen anschließend die Bilderausstellung des Auschwitz überlebenden polnischen Juden Prof. Marian Kolodziej, der nach Jahrzehnten des Schweigens die Krypta des Franziskanerklosters in Harmeze nahe Oswiecim mit über 200 Schwarz-Weiß-Bildern ausgemalt hat, in denen er die Schrecken des Lagers beschreibt. Die unzähligen eindrucksvollen Gesichter der Todgeweihten, die Traum- und Schreckensbilder führen bei unseren Schülerinnen und Schülern zu dem Eindruck: „Jetzt sind die Erlebnisse von damals innen bei mir angekommen. Jetzt habe ich die Menschen gesehen, die dort im Lager gelebt haben und gestorben sind.“
Viel haben wir gesehen, und viele Eindrücke nehmen wir mit nach Hause. Wir haben unsere Führungen im heutigen Oswiecim begonnen und dort die einzige von früher vier Synagogen besucht. Oswiecim hatte vor dem Krieg 60 % jüdische Bevölkerung. Die Nazis deportierten die gesamte jüdische Bevölkerung der Kleinstadt und wollten aus ihr eine deutsche Musterstadt machen. Nur wenige Juden kamen nach der Shoa zurück; der letzte von ihnen starb vor ca. 10 Jahren. Wir haben Krakau besucht, die wunderschöne ehemalige polnische Hauptstadt. Diese Stadt weiß noch heute einiges vom früheren jüdischen Leben zu erzählen. So besuchten wir das jüdische Viertel Kasimiercz, sahen die jüdischen Gasthäuser, die schönen Synagogen, den großen Friedhof, aber auch einen Rest der Mauer um das jüdische Ghetto, den Ghetto-Platz, von dem aus die Deportationen stattfanden, das Eingangstor von Schindlers Fabrik, der als Nazi-Unternehmer eine polnische Fabrik übernahm und dort über 200 Juden beschäftigte und vor der Shoa rettete. Die Überlebenden, die sogenannten „Schindler-Juden“, sind auf einer großen Fotowand abgebildet, und diese Fotos stehen in einem eigenartigen Kontrast zu den vielen Häftlingsporträts im Stammlager – viele im Alter unserer Schülerinnen und Schüler; von den Häftlingen überlebte fast niemand.
Auschwitz ist heute ein Museum mit jährlich Millionen von Besuchern, Tendenz steigend. Rückläufig ist allein die Zahl deutscher Besucher. „Müssten nicht alle deutschen Schülerinnen und Schüler Auschwitz besuchen?“ fragten wir. Wir können nur dann aus der Geschichte lernen, wenn Geschichte nicht als Theorie gelehrt, sondern als Teil der Realität erlebt wird. Das Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, ist mir und anderen Lehrpersonen wichtig. Deshalb fährt das Berufskolleg Bergkloster Bestwig in diesem Schuljahr schon zum dritten Mal nach Auschwitz, immer mit 30 Personen, alle freiwillig. Und was lernt man in Auschwitz? Menschlichkeit. Mehr kann man nicht lernen.
Es war für unsere Gruppe eine besondere Erfahrung, dass zeitgleich das Präsidium des Landtags von Nordrhein-Westfalen in Auschwitz war. Das „Zentrum für Dialog und Gebet“, eine katholische Bildungsstätte der polnischen und deutschen Kirche, die mit der Unterstützung von Gedenkstättenfahrten eine wichtige Versöhnungsarbeit leistet, hatte uns die Begegnung mit den Politikern möglich gemacht. Mit ihnen tauschten wir uns über unsere Erfahrungen mit dem Thema Auschwitz aus und erlebten, dass ihnen dieselben Fragen nach Versöhnung und Frieden wichtig sind wie den jungen Leuten. Mit ihnen gingen wir zur Todeswand neben dem Todesblock 11 des Stammlagers, wo viele Häftlinge er-schossen worden sind, und legten mit ihnen dort einen Kranz nieder. Mit ihnen betraten wir die einzige noch erhaltene Gaskammer und trugen uns anschließend in das Gedenkbuch des Lagers ein. Der Landtagspräsident André Kuper (CDU) sagte bei der Kranzniederlegung an der Todeswand: „Der Weg in ein besseres Morgen ist für alle in Deutschland lebenden Menschen nur möglich, wenn wir bereit sind, uns mit der schwierigen deutschen Geschichte zu beschäftigen und über das Gestern Rechenschaft abzulegen. Und das immer wieder neu.“
Dr. Christoph Recker